Montag, 21. Juli 2008

...lass die leute reden

Anbei ein Auszug aus einem Buch, dass ich vor einiger Zeit angefangen habe zu schreiben:

Ich sitze seit gut einer Dreiviertelstunde im Wartezimmer meines Hausarztes und wundere mich. Was ich hier beobachten kann ist wohl das für Sozial-Forscher, was Wildfluggänse im Tiefflug für die lokalen Ornithologen sind. Mein Name wird aufgerufen. Ich darf zum Doktor und komme mir ein bisschen so vor, als dürfte ich das Big-Brother-Haus verlassen. Aber was ist geschehen?

Ich betrete den Raum fast genau vor fünfundvierzig Minuten. Vor mir warten nur eine junge Frau und eine ältere Dame. Ich murmele, aus purer Unsicherheit heraus, ein unverständliches „Morgen“, da ich mir in solchen Situationen nie gewiss bin, welche Lautstärke denn angebracht ist, und suche mir einen Sitzplatz in einer Stuhlreihe, die an einer Wand steht. Die beiden Damen sitzen mir gegenüber.
Ich überlege, ob ich mir was zu lesen vom Tisch in der Mitte holen soll. Ich spiele den Gedanken kurz durch und entscheide mich dagegen. Auch wenn es vielleicht nur zwei Schritte zu einer wirksamen Waffe gegen die Langeweile gewesen wären, kenne ich mich doch zu gut um zu wissen, dass mir genau solche zwei Schritte reichen um mich – und mein Umfeld – in ein Unglück mit Blut, Verletzten, Sachschäden und Weltuntergangsstimmung zu reißen.

10 Minuten später

Ich langweile mich. Es ist diese furchtbare Art der Langeweile, die nicht aus Lustlosigkeit, sondern viel mehr aus mangelnden Möglichkeiten der Beschäftigung entsteht. Ich lasse meinen Blick im Raum schweifen und für einen kurzen Moment glaube ich, dass mich die junge Frau anstarrt. Ich gucke kurz an mir herunter um mich zu vergewissern, dass weder eigene, noch Ausscheidungen von Tieren an mir heften. Glück gehabt. Ich schaue mich weiter gelangweilt um und erneut fällt der Tisch mit den zahlreichen Prospekten. Die Versuchung wächst, aber erneut entscheide ich mich dagegen. Als ich wieder aufschaue, schaut mich die junge Frau immer noch an. Etwas stimmt hier nicht. Oder nicht mir ihr. Ich versuche einen Blick aufzusetzen, als ob ich es nicht merken würde und stelle nicht mal eine Sekunde später fest, dass das eher der Blick eines Mensches ist, der nur so tun wollte, dass er nicht bemerkt hat, dass er beobachtet wird. Im Geiste entgleist mir ein lautes „Scheiße.“ und ich wende mich meinem Handy zu,

5 Minuten später

Die Deckenverkleidung besteht aus 36 Trockenbauplatten! Die Jacke der alten Frau hat 4 messingfarbene Knöpfe. Inzwischen sitzt zwei Stühle neben mir ein alter Mann. Er wirkt so, als hätte er den Ruhrpott alleine und mit bloßen Händen aus dem Boden gestampft. Das wurde mir schon klar, als er mit ausgewaschener Leinenhose, hellblauem Oberhemd, mittelbraunen Herrenschuhen, Schlägermütze das Wartezimmer betritt und das erste was er sagt ist nicht etwa „Morgen“, sondern ein – durch ein herzhaftes und durch aus sympathisches Lachen untermaltes – „Ja Scheiße, da sind wir wohl alle krank!“ war. Ich mag ihn.
Nun fällt mir auch das erste Mal auf, wie schwerfällig und laut die alte Frau von Gegenüber keucht. Mir ist gar nicht aufgefallen, wie sehr sie in ihren Tunnelblick vertieft ist. Ihr Keuchen ergibt zusammen mit ihrer leichten Auf-Und-Ab-Bewegung – vermutlich resultierend durch die schlechte Atmung – ein skurril-harmonisches Gesamtbild, das mich bestimmt eine Minute lang fängt.

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